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Von Pflanzen und Tieren lernen: Wie wir raffinierte Tricks von Eisbär, Echse und Liane nutzen

18.07.2014
Freiburg. Ritsch, ratsch – ein Klettverschluss ist praktisch. Er hält zuverlässig und lässt sich nahezu unbegrenzt öffnen und wieder verschließen. Erfunden hat ihn die Natur: Klettfrüchte besitzen kleine Widerhaken, mit denen sie sich an Tierfell oder Hosenbeinen festheften und sich so verbreiten. Eine solche Meisterleistung zu erkennen und auf eine technische Anwendung zu übertragen, ist das Ziel der Bionik (Biologie und Technik).
„Pflanzen und Tiere sind wertvolle Ideengeber für die Entwicklung neuer Materialien und Technologien“, erklärt Bionik-Forscherin Olga Speck. Sie arbeitet im Kompetenznetz Biomimetik in Freiburg, einem Zusammenschluss von Wissenschaftlern zum Beispiel der Unis Freiburg, Tübingen, Stuttgart oder dem Karlsruher Institut für Technologie.
Fisch-Schwanzflosse hilft, einen Mopp leichter auszuwringen Für die Industrie ist dieses Wissen extrem wertvoll, längst haben Erkenntnisse aus der Bionik Einzug in unseren Alltag gehalten. Zum Beispiel für das leichtere Auswringen eines Wischmopps: „Inspiriert hat uns der Flossenschlag eines Fischs“, erklärt Norbert Weis, Entwicklungsleiter bei der Freudenberg Gruppe in Weinheim. Durch gezielte Druck-und Gegendruck-Bewegungen gleitet ein Fisch nahezu schwerelos durchs Wasser. Mithilfe eines Auswringkorbs lässt sich die Bewegung nachahmen.
„Die Konstruktion besteht aus stabilen, aber sehr filigranen Kunststofflamellen, die spitz nach unten zulaufen“, erläutert der Experte. Diesem Aufbau liegt das Prinzip der Fisch-Schwanzflosse zugrunde: „Drückt man mit dem Finger gegen das Flossenskelett, verteilen sich die Kräfte so, dass sich die Flosse um den Finger wölbt.“ Auch der Auswringkorb passt sich dem Mopp an, durch den gleichmäßigen Druck fließt das Wasser ab.
Manchmal ist Kunststoff der Natur überlegen Aber auch Pflanzen nimmt sich das Unternehmen zum Vorbild, etwa bei der Entwicklung eines neuen Besens. In Indien sind Feger aus einem speziellen Gras weitverbreitet: „Die Halme sind in ihrer Struktur sowohl fest als auch elastisch“, beschreibt Marketing-Profi Carl Uwe Tintelnot den Vorteil des Materials. „Am oberen Ende verzweigen sich die Gräser in viele kleine Fasern, eine filigrane Struktur, die auch kleinste Schmutzpartikel mitnimmt.“
Doch es gibt auch Nachteile: Neue Grasbesen verteilen zunächst ihren eigenen Staub, der von unzähligen kleinen Samenkapseln stammt. Zudem nutzen sich Grasbesen schnell ab. Trick der Weinheimer: „Wir stellen Fasern mit ähnlicher Struktur aus recyceltem Kunststoff her“, erläutert Tintelnot. „Sie imitieren die Vorteile des Grases, stauben aber nicht, halten länger und können sogar ausgewaschen werden.“ Reptilienhaut als Vorbild für Funktionskleidung Der Chemiespezialist CHT/BEZEMA aus Tübingen liefert eine Textilbeschichtung, die Wärmestrahlen der Sonne aufnimmt – unabhängig von der Farbe des Stoffs. Darum wärmen selbst helle und dünne Textilien beim Wandern oder Skifahren. Abgeschaut ist die Idee bei Reptilien: Die wechselwarmen Tiere sonnen sich, um ihre Körpertemperatur zu erhöhen und ihren Stoffwechsel anzuregen – ihre Haut absorbiert Wärmestrahlen besonders gut. Bei der Stoffausrüstung übernehmen das spezielle Kunststoffe aus anorganischen Pigmenten und organischen Polymeren. Bakterien kennen das Schönheitsrezept Ein Bakterium aus der Wüste Skedis, einem Sahara-Ausläufer, inspirierte den Naturkosmetikhersteller Börlind in Calw. Die Bakterien schützen sich mit einem speziellen Stoff (Ectoin) vor dem Austrocknen. Dieser kann extrem viel Wasser binden und ermöglicht das Überleben in sehr trockenen Umgebungen, etwa im ewigen Eis oder in Salzseen. In Anti-Aging-Produkten sorgt der Naturstoff nun dafür, dass Hautzellen mehr Feuchtigkeit speichern und so Falten reduzieren. Die Minipartikel können tief in die Gesichtshaut eindringen.
Pflanzenzellen als Pannenhelfer Pflanzen müssen Verletzungen schnell selbst heilen, um Wasserverluste möglichst gering zu halten. So quellen bei Lianen benachbarte Zellen blitzschnell auf, wenn die Pflanze abknickt – und dichten auf diese Weise die verletzte Stelle ab. Ein ähnliches Prinzip hilft bei Fahrradpannen: Ein Schlauch des Reifenherstellers Michelin in Karlsruhe („Protek Max“) repariert sich selbst. Speziell geformte Gummiwölbungen auf Lauffläche und Flanke bilden eine Gummireserve und verringern die Oberflächenspannung des Schlauchs. Dringt ein Nagel oder spitzer Gegenstand ein, verschließt das „überschüssige“ Gummi aus der Wölbung das Loch. Gleichzeitig dichtet ein spezielles Gel im Schlauchinneren die verletzte Stelle ab. Häuser wärmen nach Eisbär-Art Dass der Eisbär im arktischen Winter nicht erfriert, verdankt er einem Trick: Seine durchsichtigen Haare leiten (wie eine feine Glasfaser) einen Großteil der Sonnenstrahlen auf die Haut weiter. Die Haut wiederum ist schwarz, saugt die Energie der Sonne auf und wärmt so den Arktisbewohner. Dieses Prinzip hat sich der Baustoffspezialist Sto in Stühlingen für die Wärmedämmung abgeschaut: Das Fassadendämmsystem bündelt Sonnenlicht in feinen Kapillaren aus Kunststoff (Polycarbonat) und leitet es direkt auf die Wand. Dort trifft es auf eine dunkel getönte Beschichtung (Absorber), die gleichzeitig als Kleber der Dämmplatte dient. Die Schicht schluckt die Sonnenstrahlen, wandelt sie in Wärme um und speist diese in das Mauerwerk ein.