Verbände | VCI | agvChemie | Energie und Klima

Chemische Industrie in Baden-Württemberg und der Krieg in der Ukraine: Zwischen Gas-Lieferstopp und engagierter Hilfe

12.05.2022

Für den Fall eines kurzfristigen Erdgas-Lieferstopps nach Deutschland werden im Endeffekt zahllose Produkte nicht mehr hergestellt werden können – das ist die Einschätzung der chemischen und pharmazeutischen Industrie in Baden-Württemberg. Die Verbände Chemie.BW haben mögliche Auswirkungen auf die 480 Unternehmen (108.000 Beschäftigte) zusammengestellt und kommentiert.

Martin Haag, der Vorsitzende des Verbandes der Chemischen Industrie Baden-Württemberg (VCI BW), ist überzeugt: „In der Folge würden auch in Baden-Württemberg Chemieanlagen stillstehen. Und das kann sich kurzfristig und gravierend auf andere Industrien auswirken: Es fehlen dann Kunst- und Klebstoffe, Farben und Lacke, Folien und irgendwann auch ganz banal Waschmittel und Kosmetikprodukte. Die Lieferketten würden reißen."

"Die Chemie-Arbeitgeber in Baden-Württemberg stellen sich ihrer Verantwortung als wichtiger Teil der Wirtschaft - und helfen im Land, wo sie können. Dabei ist klar: Um schnell und unbürokratisch helfen zu können, braucht es vor allem ein pragmatisches und effizientes Vorgehen," so unterstreicht Patrick Krauth, Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes Chemie Baden-Württemberg (agvChemie), die Einstellung der Branche.

Allerdings: Die chemische Industrie in Deutschland und in Baden-Württemberg steht vor mehreren Problemen, wenn das Gas in Deutschland knapp wird. Klar ist, dass nach der heutigen Gesetzeslage das produzierende Gewerbe nicht bevorzugt bei einer Gasmangellage bedient wird. Derzeit kauft die chemische Industrie in Deutschland etwa 15 Prozent des in Deutschland genutzten Erdgases. Davon kommen aktuell mehr als 40 Prozent aus Russland.

Grundstoffchemie muss bei Gasmangel abschalten

Die Grundstoffchemie muss bei Gasmangel abschalten. Sie erzeugt vielfach auch in Verbundproduktion an einem Standort aus Erdgas bzw. Erdölprodukten eine Vielzahl an Folgeprodukten. Diese Produktionen sind nur unter hohem Energieeinsatz möglich. Dazu werden an zahlreichen Standorten eigene Industriekraftwerke in Kraftwärmekopplungstechnik betrieben. Die komplexen Reaktionen in der chemischen Industrie lassen sich nicht auf Sparflamme betreiben. Sie müssten komplett abgeschaltet werden. Bei einem Gaslieferstopp aus Russland in den nächsten Wochen wären die Speicher nach aktuellen Erkenntnissen bis spätestens Herbst 2022 so erschöpft, dass die Industrie nicht mehr beliefert werden kann.

Folgen für Chemie- und andere Unternehmen

Damit fällt die Grundstoffchemie als Lieferant von Vorprodukten aus. Beispielsweise könnten sodann auch Spezialchemiehersteller nicht mehr produzieren. Deren Produkte gehen an eine Vielzahl von Weiterverarbeitern, wie Kunststoffhersteller, Farben- und Lackproduzenten, Klebstoffunternehmen oder Schmierstoffproduzenten. Diese benötigen Spezialchemikalien, um bestimmte Eigenschaften im Fahrzeugbau, in der Elektronik oder bei Baustoffen zu gewährleisten. Ebenso betroffen wären die Druckfarben- oder Papierindustrie, die Hersteller von Medikamenten, Körperpflegemitteln oder Dünger.

Lieferketten werden reißen

Unterm Strich: Die bei Gasmangel notwendige Abschaltung der Chemieindustrie hat weitreichende Folgen. Die Lieferungen aus der Grundstoffchemie an die Spezialchemie werden ausfallen. Die weiterverarbeitende Industrie und die Hersteller von Konsum- und Investitionsgütern erhalten keine Vorprodukte mehr. Als Folge müsste überall die Produktion drastisch reduziert werden – und die Preise für Produkte würden extrem steigen.

Mehr als 90 Prozent der deutschen Lieferketten im verarbeitenden Gewerbe hängen von der Chemie ab.

Erdgas kann nicht einfach ersetzt werden

Erdgas ein Rohstoff für zahlreiche chemische Produkte. Soll es hier ersetzt werden, müssen ganze Prozesse und Anlagen neu gedacht und umgebaut werden. Dies ist im Rahmen der Anstrengungen der Branche, klimaneutral zu werden, langfristig durchaus vorgesehen. Aber kurzfristig lässt sich das nicht realisieren.

Als Energieträger hat Erdgas in vielen traditionellen Standorten gerade im Kraftwerksbereich Kohle erst kürzlich ersetzt - weil es ein saubererer und CO2-ärmerer Brennstoff ist. Diese Umstellungen sind nicht kurzfristig rückgängig zu machen. Zudem wäre das für die Klimaschutzanstrengungen kontraproduktiv.

Industrie-Standort Baden-Württemberg kann Wettbewerbsfähigkeit verlieren

Insgesamt wird bei Gasmangel die Industrie für einen längeren Zeitraum nicht oder nur eingeschränkt lieferfähig sein. Die Kosten beispielsweise für den Einkauf und Import von Rohstoffen und Energien würden weiter drastisch steigen. Schon heute sind die Industriestrompreise in Deutschland weltweit an der Spitze.

Das bisher zuverlässig gelieferte Erdgas war für Deutschland und Baden-Württemberg ein wichtiger positiver Wettbewerbsfaktor. Wenn er wegfällt, schlagen negative Faktoren wie beispielsweise die hohen Arbeitskosten und die langsamen Genehmigungsverfahren voll durch.

Bei Entscheidungen, wo neue Produktionen entstehen oder ob in bestehende Standorte investiert wird, werden nach einem kurzfristigen Gaslieferstop die Entscheidungen internationaler Konzerne sehr schnell und deutlich gegen den Standort Deutschland fallen. Dabei werden auch Unternehmen mit Sitz in Deutschland keine Ausnahme machen können.

Es besteht so die Gefahr, den industriellen Kern in Deutschland und Baden-Württemberg zu verlieren. Der vergleichsweise hohe Industrieanteil an der Gesamtwirtschaft war bisher ein Vorteil gegenüber anderen Ländern, der für eine starke Krisenresilienz schon in der Finanz- und aktuell in der Corona-Krise gesorgt hat.

Politische Entscheidung eines Embargos

Aufgrund der vorliegenden Zwänge tut sich die Industrie extrem schwer, einseitig auf Gasimporte zu verzichten. Ein Embargo ist aus Sicht der baden-württembergischen Chemieverbände eine politische Entscheidung. Die Branche kann nur Informationen und Einschätzungen zu Möglichkeiten und Folgen zur Verfügung stellen.

Den russischen Krieg in der Ukraine beenden

Der VCI-Vorsitzende Haag appelliert an die Politik in Berlin: „Der russische Angriff auf die Ukraine und seine erschütternden Folgen mit unverzeihlichen Gräueltaten müssen beendet werden. Dafür unterstützen wir die klare Haltung der Bundesregierung und die deutschen und EU-Sanktionen.“

Für den Arbeitgebervorsitzenden Krauth ist wichtig: "Wir sind gerne bereit, weiterhin Flüchtlinge zu integrieren und ihnen eine Perspektive hier zu bieten.“ Und er ergänzt mit Blick auf die Sozialpartnerschaft in der chemischen Industrie: "Beim jüngsten Tarifabschluss haben wir gezeigt, dass wir auch als Chemie-Sozialpartner nicht beiseite stehen: eine Million Euro haben wir aus dem Unterstützungsfonds gespendet."