Tarifpolitik | agvChemie

Tarifverträge: Welche Vorteile durch harte Verhandlungsarbeit und viele Paragraphen für Beschäftigte und Arbeitgeber erreicht werden

26.08.2023

„Vergütung nach Tarif“ – damit wird gerne von Unternehmen in Stellenanzeigen geworben. Arbeitnehmer wissen dann, worauf sie sich mit dem Arbeitsvertrag einlassen. Die Bezahlung ist durch die Eingruppierungen geregelt. Extraleistungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld sowie Sozialversicherungsbeiträge sind festgeschrieben und gehören zum Gesamtpaket im Job. Aber: Der Tarif fällt nicht vom Himmel. Wir erklären, wer den Tarif verhandelt und wer davon profitiert.

In Baden-Württembergs Chemie- und Pharmaindustrie sind 72.000 Arbeitnehmer in einem Unternehmen mit Tarifbindung beschäftigt. Der Flächentarifvertrag wird von den Sozialpartnern, dem Arbeitgeberverband Chemie (agvChemie) und der Industriegewerkschaft Bergbau, Energie, Chemie (IGBCE) ausgehandelt. Wer einen Arbeitsvertrag in einem Chemie-Unternehmen abschließt, bekommt demnach mit großer Wahrscheinlichkeit eine Vereinbarung, in der in vielfacher Hinsicht auf „tarifliche Regelungen“ Bezug genommen wird.. Denn die große Mehrheit der baden-württembergischen Unternehmen in der Branche sind tarifgebundenes Mitglied im Arbeitgeberverband Chemie. Aber was bedeutet das für die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer?

Flächentarifverträge als Standard

Flächentarifverträge werden zwischen einer Gewerkschaft und einem Arbeitgeberverband geschlossen. Sie gelten für die Mitglieder beider Tarifvertragsparteien – für die Unternehmen und für die Mitarbeiter. Die Verträge stellen sicher, dass in den Betrieben einer Branche in einem bestimmten Gebiet gleiche Mindestarbeitsbedingungen gelten. Dazu gehören wichtige Arbeits- und Einkommensbedingungen, wie Bezahlung, Arbeitszeiten, Urlaub, Urlaubs- und Weihnachtsgeld sowie Kündigungsfristen.

Vorteile für Arbeitgeber

Dadurch, dass alle Branchenunternehmen einer Region unter gleichen Voraussetzungen arbeiten, kann kein Unternehmen sich durch Lohndumping Wettbewerbsvorteile verschaffen. Aber auch in den Zeiten des Fachkräftemangels bekommt der Aspekt der gleichen Arbeitsbedingungen zunehmend Bedeutung: Unternehmen können an ihren „soften“ Vorteilen arbeiten, um als Arbeitgeber attraktiv zu sein.

Zudem gibt der Flächentarifvertrag Planungssicherheit für Unternehmen. Während seiner Laufzeit gilt die Friedenspflicht. Sie untersagt den Tarifvertragsparteien jede Form von Arbeitskampf während der Vertragslaufzeit, so dass Betriebe ohne Streiks und Aussperrungen produzieren können (siehe auch Infokasten „Chemie-Sozialpartnerschaft“). Weil nicht mit jedem Arbeitnehmer die Arbeitsbedingungen einzeln verhandelt werden müssen, hilft ein Tarifvertrag dem Arbeitgeber auch, Kosten zu sparen.

Die Tarifvereinbarungen dürfen jedoch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Unternehmen nicht überfordern. Deshalb werden manchmal Spielräume für betriebsspezifische Lösungen geschaffen. Öffnungsklauseln gestatten einzelnen Betrieben, zeitlich befristet von einigen Flächentarifnormen abzuweichen.

… und Arbeitnehmer

Insgesamt hat die Tarifpolitik das Ziel, einen fairen Ausgleich von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen zu schaffen. Im Vergleich gilt für die Arbeitnehmer: wer tarifgebunden arbeitet, arbeitet kürzer und verdient mehr. Deshalb sind für Fachkräfte tarifgebundene Betriebe attraktiver. So arbeiten laut einer Studie Vollzeitbeschäftigte in tariflosen Betrieben im Mittel wöchentlich 54 Minuten länger und verdienen 11 Prozent weniger als Beschäftigte in Betrieben mit Tarifbindung, die sich im Hinblick auf Größe, Branche und Qualifikation der Beschäftigten nicht unterscheiden. Dies ist das Ergebnis einer WSI-Studie (Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung).

Auf dem Boden des Grundgesetzes

Die rechtliche Grundlage für den Tarifvertrag bilden das Tarifvertragsgesetz von 1949 sowie Artikel 9 des Grundgesetzes, der die Tarifautonomie regelt:

Das Recht, zur Wahrung und Förderung

der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen

Vereinigungen zu bilden, ist für

jedermann und für alle Berufe

gewährleistet (…)

Die Tarifverhandlungen und der Tarifvertragsabschluss zwischen den Vertragsparteien sollen ohne staatliche Einflussnahme ablaufen – weil die Aufgabe des Staates ganz bewusst nicht dort gesehen wurde, wo die Tarifparteien selbständig und mit viel mehr Sachverstand etwas aushandeln können.

Für die Chemie-Beschäftigten wurde im Oktober 2022 der aktuell geltende Tarif verhandelt. Die wichtigsten Eckdaten des Vertrages sind:

  • Die Beschäftigten erhalten dauerhafte Lohnerhöhungen von je 3,25 Prozent im Januar 2023 und ein Jahr später.
  • Die Beschäftigten bekommen zwei Einmalzahlungen von jeweils 1500 Euro –

bis Januar 2023 und ein Jahr später. Darauf entfallen keine Steuern und Sozialabgaben.

  • Auszubildende bekommen neben der Lohnerhöhung Einmalzahlungen von 500 Euro.

Im Juni 2024 gehen die Tarifverhandlungen in eine neue Runde – sie starten für die Tarifbezirke mit Regionalrunden und werden dann auf Bundesebene durch die beauftragte Tarifkommission des Bundesarbeitgeberverbandes Chemie (BAVC) mit der IGBCE fortgesetzt.

Bewährte Chemie-Sozialpartnerschaft

Die Sozialpartnerschaft von Gewerkschaft und Arbeitgebern ist zum Markenzeichen der Chemie-Branche geworden. Sie drückt sich in einem breitgefächerten Tarifwerk, außertariflichen Sozialpartnervereinbarungen und gemeinsamen Einrichtungen aus. Das Ergebnis der gemeinsamen flexiblen Tarifpolitik sind attraktive Punkte wie beispielsweise:

  •  der Arbeitszeitkorridor,

  •  die Optionen für Langzeitkonten und Qualifizierung,

  •  der Chemie-Pensionsfonds oder

  •  die Option einer erfolgsabhängigen Jahresleistung.

Zukunftsweisende Vereinbarungen, die die Chemie-Sozialpartner getroffen haben, sind u.a.:

  •  der Tarifvertrag Lebensarbeitszeit und Demografie,

  •  der Tarifvertrag Zukunft durch Ausbildung und Berufseinstieg,

  •  der Tarifvertrag über Einmalzahlungen und Altersvorsorge,

  •  die Grundsätze „Für eine chancengleiche und familienbewusste Personalpolitik“.

Interessant: In der deutschen Chemie-Industrie gab es seit fünfzig Jahren keinen großen Branchenstreik mehr. Die Sozialpartnerschaft zeigt sich in teilweise harten, langen Verhandlungen – aber immer auch in Kompromissbereitschaft. Es heißt nicht zu Unrecht: „Unter einem Tarifvertrag stehen immer zwei Unterschriften“.