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Streit um Pflanzenschutzmittel: Geplante EU-Verordnung gefährdet Nahrungsversorgung

22.02.2023

Berlin. Rüsselkäfer im Raps, Knollenfäule an Kartoffeln, Mehltau im Weinberg: Schädlinge können rasch große Teile der Ernte vernichten. Dagegen helfen Pflanzenschutzmittel. In Zukunft sollen Landwirte die Substanzen gar nicht mehr spritzen oder weniger verwenden.

Denn die EU will den Einsatz der Stoffe bis 2030 um die Hälfte verringern, Menge und Risiko sollen halbiert werden. So sieht es eine neue Pflanzenschutzverordnung („Sustainable Use Regulation“) vor, an der Brüssel derzeit arbeitet. In Vogel-, Natur- und Landschaftsschutzzonen würden die Stoffe verboten. Landwirte müssten jeden Einsatz detailliert dokumentieren.

Chemie auf dem Acker: Fast jeder zweite Hektar würde zur Verbotszone

Die EU begründet das mit Gesundheitsschutz und Insektensterben. „Die Zeit chemischer Pestizide ist vorbei“, kündigt Kommissarin Stella Kyriakides an. Umweltschützer begrüßen das, Bauern protestieren. Agraringenieur Johann Meierhöfer, Leiter des Fachbereichs Pflanzliche Erzeugung beim Bauernverband DBV, kritisiert den Entwurf als überambitioniert: „Wenn man das so umsetzt, riskiert man die Ernährungssicherheit in Deutschland und Europa!“ Die Verordnung müsse überarbeitet werden. Das fordert auch der Agrochemie-Herstellerverband IVA.

Große Sorgen bereiten Bauern und Branche die Verbotszonen, in denen die 950 Pflanzenschutzmittel (insgesamt 280 Wirkstoffe) tabu wären. „Bleibt es wie geplant, betrifft das 5 Millionen der 11,5 Millionen Hektar Ackerfläche hierzulande“, sagt Meierhöfer. „Das macht Ackerbau in vielen dieser Gebiete unmöglich.“ Und gefährde die Existenz zahlreicher Bauern.

86.500 Tonnen Pflanzenschutzmittel wurden 2021 verkauft

Konkret: Obst und Gemüse gäbe es viel weniger, bei Kartoffeln und Zuckerrüben drohten Jahre mit Totalausfall und viele Weinbaugebiete stünden vor dem Aus. Die Getreideernten, die auch jährlichen Schwankungen unterliegen, würden um 7 auf ungefähr 35 Millionen Tonnen schrumpfen. Nahrungsmittel würden teurer.

„Dazu brauchen wir dringend eine umfassende Folgenabschätzung durch die EU“, fordert Meierhöfer. Denn Nahrung ist wegen des Ukraine-Kriegs knapp, etwa in Afrika und dem Nahen Osten. „Wir Europäer würden ärmeren Ländern dann mehr Lebensmittel wegkaufen.“

Zudem kritisiert der Agraringenieur die „übertriebenen Dokumentationspflichten“. Vor jedem Pestizid-Einsatz seien alle Alternativen zu prüfen. „Das ist, als müsse man vor jeder Autofahrt begründen, warum man nicht Rad oder Bahn nutzt.“ Schon jetzt gelten strenge Regeln. Alle drei Jahre müssen Bauern ihre Sachkunde nachweisen.

Überhaupt nimmt der Verbrauch ab: seit 2014 um fast 20.000 Tonnen auf 86.500 Tonnen Pflanzenschutzmittel im Jahr. Bezogen auf die enthaltenen Wirkstoffe entspricht das einem Minus von 5.500 Tonnen auf 29.000 Tonnen. Wie wäre da noch weniger zu schaffen? Gibt es Alternativen zum EU-Plan?

Mit Hightech lassen sich künftig gezielt Areale oder einzelne Pflanzen besprühen

Hier nennen Experten zuerst die Digitalisierung. 10 Milliarden Euro wollen Agrochemie-Hersteller in diesem Jahrzehnt in die Hightech-Landwirtschaft investieren. Kamera- oder sensorgesteuerte Spritzen etwa können gezielt befallene Areale und sogar einzelne Pflanzen besprühen. Meierhöfer: „Bis 2030 sollten sich damit 30 Prozent oder sogar mehr einsparen lassen.“

Eine Hoffnung sind auch neuartige Mittel, die wie Corona-Impfstoffe den Botenstoff RNA nutzen. Meierhöfer: „Damit kann man Schädlinge zielgenau bekämpfen, ohne andere Tiere zu treffen.“ Die könnten in fünf bis acht Jahren kommen. Und dann sind da Insekten- und Vogelvielfalt. Sie lassen sich durch miteinander verbundene Biotope wie Hecken, Wiesen, Grünstreifen fördern.

Noch ist die Verordnung nicht beschlossen. Bei den Verbotszonen deutete die Kommission Kompromissbereitschaft an. Vielleicht gibt es auch bei den innovativen Methoden Bewegung.

Autor: Hans Joachim Wolter