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Erdgas: Was Deutschlands Industrie droht, wenn Russland nicht mehr liefert

15.04.2022

Berlin. Wladimir Putins Angriffskrieg trifft die Industrie mit voller Wucht. Absatzmärkte brechen weg, Lieferanten fallen aus – und die Energiepreise schießen durch die Decke. Beim Gas zeigt sich, wie sehr Putin Energie als Waffe einzusetzen weiß. Erst ordnete Russlands Präsident an, dass „unfreundliche Staaten“ wie Deutschland russisches Gas nur noch mit Rubel bezahlen dürfen. Dann schien er davon abzurücken. Doch die Drohung, den Gashahn zuzudrehen, steht weiter im Raum.

40 Prozent betrug zuletzt der Anteil Russlands an den Gaslieferungen

Quelle: BDEW

Für die Industrie wäre das der GAU. Denn laut „Notfallplan Gas für die Bundesrepublik Deutschland“ würde sie als Erste von der Gasversorgung abgeschnitten. Die gleichen Auswirkungen hätte ein Gasembargo durch die EU.

Russland ist auch wichtiger Lieferant von Kohle und Öl

Die dramatischen Folgen: Lieferketten würden reißen, Fabriken müssten schließen. Gaskraftwerke sind beispielsweise für die Chemieproduktion unverzichtbar. Fallen sie aus, gefährdet das die Grundstoffproduktion in Deutschland – nicht nur in der Chemie, sondern auch bei Nahrungsmitteln, Papier, Glas und Stahl. Es würde eine Kettenreaktion in Gang setzen, die 2,5 bis 4 Millionen Arbeitsplätze gefährden könnte, heißt es im Institut der deutschen Wirtschaft (IW).

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Letztes Jahr kamen 55 Prozent der Erdgasimporte für Deutschland aus Russland. Seit Anfang 2022 ist der Anteil zwar auf 40 Prozent gesunken – eine große Abhängigkeit besteht aber nach wie vor. Ähnlich sieht es bei Kohle und Öl aus: Auch da ist Russland ein wichtiger Lieferant.

Die Chemie-Branche setzt allein 2,8 Millionen Tonnen Erdgas als Rohstoff ein

Die Kriegsfolgen spüren vor allem energieintensive Industrien, besonders aber die Chemie-Branche: Sie benötigt mehr als 14 Millionen Tonnen Rohbenzin (Naphtha) – ein Derivat des Öls – als Rohstoff für die Herstellung ihrer Produkte. Und sie setzt allein 2,8 Millionen Tonnen Erdgas als Rohstoff ein und noch mal fast die dreifache Menge als Energieträger in ihren Anlagen.

„Wenn die Gasversorgung aus Russland eingestellt wird, werden bei uns in Baden-Württemberg ab Herbst die Chemieanlagen stillstehen“, warnt zum Beispiel Martin Haag, Vorsitzender des Verbandes der Chemischen Industrie Baden-Württemberg. „Und das wird sich kurzfristig und gravierend auf andere Industrien auswirken: Es fehlen dann Kunst- und Klebstoffe, Farben und Lacke, Folien und irgendwann auch ganz banal Waschmittel und Kosmetikprodukte. Die Lieferketten werden reißen.“

Düster sieht es auch bei Großabnehmern wie der Ludwigshafener BASF aus, die 10.000 Produkte herstellt. Wird so ein Riese schachmatt gesetzt, hat das gewaltige Auswirkungen auf die gesamte Volkswirtschaft.

Auch Gießereien, Metallverarbeiter, Autoproduzenten, Glas- und Papierfabriken verbrennen Gas in großen Mengen. Inzwischen üben sich Firmen in der Rolle rückwärts – in Sachen Klimaschutz. Eigentlich wollte VW sein Wolfsburger Heizkraftwerk bis zum Herbst von Steinkohle auf Gas umrüsten – und so pro Jahr 1,5 Millionen Tonnen Kohlendioxid (CO2) einsparen. Daraus wird nun nichts. Die Versorgungssicherheit hat jetzt oberste Priorität.

Immer mehr Firmen greifen zu klimaschonenden Alternativen

Experten sind sich einig: Deutschland muss raus aus der gefährlichen Abhängigkeit. Möglichst schnell. Das gilt nicht nur fürs Gas – sondern für alle fossilen Brennstoffe. Die wir größtenteils (Ausnahme Braunkohle) aus dem Ausland einkaufen. Und die schädlich fürs Klima sind. „Wir müssen die Energiewende forcieren“, fordert Andreas Fischer, Energie- und Klimapolitik-Experte beim IW (siehe Interview). Sie ermögliche der Industrie, „auch ihre Produktionsprozesse zu elektrifizieren“.

Aktuell treiben Chemiefirmen die Umstellung auf erneuerbare Rohstoffe voran. Die Chemie braucht für ihre Produkte im Grunde nur den Kohlenstoff, der bisher zu 98 Prozent aus Öl und Gas gewonnen wurde.

BASF stellt bis 2025 auf Öko-Strom um

Der Chemiekonzern BASF etwa will seine Stromversorgung bis 2025 auf erneuerbare Energien umstellen. Zudem hat das Unternehmen Anteile am Windpark Hollandse Kust Zuid erworben und Lieferverträge für Strom aus Wind- und Sonnenenergie unterzeichnet.

Heidelberg-Cement, Marktführer der deutschen Baustoff- und Zement-Industrie, nutzt bereits zu gut einem Viertel alternative Brennstoffe, zum Beispiel alte Autoreifen, Klärschlamm oder Tiermehl.

Vorreiter gibt es auch in der Metall- und Elektro-Industrie: So baut die Berghof Gruppe aus Eningen, ein Gasverbraucher, auf Energieeffizienz. Das Unternehmen in Baden-Württemberg ist in Märkten wie Filtration, Photonik, Automation oder (Elektro-)Mobilität weltweit engagiert. Oliver Walter, einer der drei Geschäftsführer, erklärt: „Schon lange bevor der Krieg in der Ukraine die Energiepreise in ungeahnte Höhen getrieben hat, haben wir uns entschlossen, durch eine Rundum-Sanierung und Modernisierung die Energiebilanz unserer Gebäude entscheidend zu verbessern und uns mit einem eigenen Blockheizkraftwerk autarker zu machen.“

Diese Beispiele machen Mut, dass es mit der Energiewende schneller gehen könnte. Und wir uns so etwas aus der Klemme befreien.

Bei Lebensmitteln drohen Engpässe

Schwer verdauliche Abhängigkeit. Die Lebensmittel-Industrie deckt ihren Energiebedarf zu weit über 50 Prozent mit Gas. Versorgungsunterbrechungen hätten direkte Auswirkungen.

Arme Schweine. Auch die Schlachthöfe hängen am Gas. Ein Lieferstopp würde zu leeren Fleischtöpfen führen. Molkereien bekämen auch Probleme.

Kalte Öfen. Bei einem Gasnotstand würden Backwaren knapp.

Autor: Wilfried Hennes